Mühlheim/Main (Hessen)

Jüdische Gemeinde - Sprendlingen (Hessen)Datei:Mühlheim am Main in OF.svg Mühlheim ist eine Stadt mit ca. 27.000 Einwohnern am linken Mainufer zwischen Offenbach und Hanau im Landkreis Offenbach/Hessen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Mühlheim, aus: wikipedia.org, gemeindfrei  und  Kartenskizze 'Landkreis Offenbach', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Eine eigene israelitische Gemeinde wurde in Mühlheim/Main relativ spät gegründet, nämlich erst 1886; bis zu diesem Zeitpunkt wohnten hier nur zwei bis drei jüdische Familien; diese besuchten im Laufe des 19.Jahrhunderts Gottesdienste im nahegelegenen Bürgel, heute Ortsteil von Offenbach. Ende der 1880er Jahre gab man den Status der Filialgemeinde zu Gunsten einer selbstständigen Kultusgemeinde auf und trennte sich von Bürgel.

               aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 28.Dez. 1887

Als um 1900 die Zahl der Juden in Mühlheim anwuchs, stellte sich auch die Frage nach der Errichtung eines eigenen Gotteshauses; in den Jahren zuvor trafen sich die jüdischen Bewohner zu Gottesdiensten in dem Privathaus von Gerson Strauß in der Sackgasse. 1914 wurde eine kleine Synagoge in der Friedrichstraße, der früheren Spinatgasse, gebaut; die für Anfang August vorgesehene festliche Einweihung fiel aber wegen des Kriegsausbruchs aus. Sang- und klanglos trug man die Thorarollen und sonstigen Geräte bei Nacht in ihre neue Wohnung. Damit war die Einweihung beendet“, schrieb Leopold Isaak, der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde, in einer Chronik.

 

Ehem. Synagogengebäude (Aufn. P. Arnsberg bzw. Th. Altaras, um 1960)

Über einen eigenen Rabbiner verfügte die kleine Gemeinde Mühlheim nicht; ihre Angehörigen wurden von dem Bezirksrabbinat Offenbach betreut.

Ihre Verstorbenen beerdigte die Mühlheimer Judenschaft im Laufe des 19.Jahrhunderts auf dem Friedhof in Groß-Steinheim. Ab 1893 stand eine eigene kleine Begräbnisstätte in Mühlheim zur Verfügung.

Juden in Mühlheim (Main):

         --- 1830 ........................ 18 Juden,

    --- 1861 ........................ 25   "  ,

    --- 1871 ........................ 23   “  ,

    --- 1905 ........................ 64   “  ,

    --- 1925 ........................ 60   “  ,

    --- 1930 ........................ 60   “  ,

    --- 1933 ........................ 78   “  ,

    --- 1938 ........................ 56   “  ,

    --- 1939 (Mai) .................. 40   “  ,

    --- 1940 (Juni) ................. 25   “  ,

    --- 1942 (Febr.) ................ 16   “  ,

             (Sept.) ................  4   “  .

Angaben aus: Klaus Werner, Mühlheim am Main 1933 - 1945, S. 216

 

Die Mühlheimer Juden bestritten in den 1920er Jahren ihren Lebensunterhalt ausschließlich als Textilwarenhändler und als Viehhändler u. Metzger.

  Zwei Geschäftsanzeigen

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten organisierte die NSDAP-Ortsgruppe Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte, doch schienen diese zunächst noch wenig Wirkung auf die „arischen“ Käufer gehabt zu haben. Die ab 1935 stärker werdende antijüdische Propaganda führte dann auch in Mühlheim dazu, dass sich die wirtschaftliche Situation der Juden erheblich verschlechterte und zahlreiche Geschäfte aufgeben mussten. Abwanderung und Emigration waren die Folge; im Jahre 1938 existierten noch fünf jüdische Gewerbebetriebe in Mühlheim.

Während der „Reichskristallnacht“ vom November 1938 wurde die Inneneinrichtung der Mühlheimer Synagoge von Jugendlichen verwüstet, dann von einigen SA-Männern in Brand zu setzen versucht. Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Leopold Isaak, durfte anschließend aus der Synagoge die Thorarollen holen, nahm diese in seine Obhut und soll sie im Keller seines Hauses "begraben" haben. Der letzte Gottesdienst im brandgeschädigten Synagogengebäude fand im Januar 1939 statt; danach wurde es an einen Privatmann verkauft, der es als Lagerraum nutzte (Anfang der 1970er Jahre wurde das Gebäude abgerissen). Auch Wohnungen und Geschäfte jüdischer Einwohner wurden während des Pogroms in Mitleidenschaft gezogen, einzelne Bewohner eingeschüchtert und schikaniert. Mehrere Männer wurden festgenommen und ins KZ Buchenwald verbracht. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wohnten noch ca. 30 jüdische Personen Mühlheim; nur neun gelang es, bis Mitte 1941 Deutschland zu verlassen. Mitte September 1942 wurden die wenigen noch in Mühlheim lebenden Juden - über Offenbach und Darmstadt in die Vernichtungslager deportiert. Nur vier „in Mischehe“ verheiratete Juden blieben zunächst in Mühlheim zurück, wurden dann aber im Frühjahr 1943 inhaftiert und ebenfalls verschleppt.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 25 gebürtige bzw. längere Zeit in Mühlheim ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der Opfer siehe:alemannia-judaica.de/muehlheim_main_synagoge.htm).

Im Zuge der Entnazifizierung 1947 wurden die Brandstifter des Synagogenbrandes angeklagt und z. T. zu Gefängnisstrafen verurteilt.

 

Eine in der Marktstraße angebrachte Gedenktafel trägt die folgende Inschrift:

Im Gedenken an unsere verfolgten jüdischen Mitbürger

während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Mühlheim/Main

und in Erinnerung an die Synagoge in der Friedrichstraße.

In der Friedrichstraße (ehem. "Spinatgasse") findet man seit 1988 eine Gedenktafel mit folgendem Text:

....

Auf diesem Grundstück stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Mühlheims.

Sie fiel in der Reichskristallnacht am 9.11.1938 dem Terror zum Opfer,

als im Rahmen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten

zahlreiche Gotteshäuser der jüdischen Gemeinden in Flammen aufgingen.

Die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in Mühlheim betrug 56

Die Zahl der Opfer, die die Verfolgung nicht überlebten, ist nicht bekannt.

Der jüdische Friedhof ist heute die letzte noch sichtbare Erinnerungsstätte an die einstige jüdische Gemeinde Mühlheims.

        Jüdischer Friedhof in Mühlheim (Aufn. J. Hahn, 2008) http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20162/Muehlheim%20Friedhof%20175.jpg

Seit 2009 nimmt auch Mühlheim an der Aktion „Stolpersteine“ teil; 25 dieser quadratischen Steintäfelchen erinnern an die ehemaligen Wohnorte verfolgter und ermordeter Juden.

               "Stolpersteine“ für Fam. Chmielniki, Bahnhofstraße

Stolperstein Albert Strauss, 1, Pfarrgasse 17, Mühlheim (Main), Landkreis Offenbach.jpg Stolperstein Mathilde Strauss, 1, Pfarrgasse 17, Mühlheim (Main), Landkreis Offenbach.jpg   Stolperstein Moritz Appel, 1, Obermainstraße 13, Dietesheim, Mühlheim (Main), Landkreis Offenbach.jpg Stolperstein Bertha Appel, 1, Obermainstraße 13, Dietesheim, Mühlheim (Main), Landkreis Offenbach.jpg

verlegt in der Pfarrgasse und Obermainstraße (Aufn. G., 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

 

Die wenigen jüdischen Familien im nahen Dietesheim waren der jüdischen Gemeinde in Groß-Steinheim angeschlossen.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 96/97

A.Mirkes/K.Schild/H.C.Schneider, Mühlheim unter den Nazis 1933 – 1945, Frankfurt/M. 1983

Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Königstein i.Ts. 1988, S. 174/175 (Neubearbeitung 2007)

A.Kurt/O.Schlander, Der Kreis Offenbach und das Dritte Reich. Leben und Politik, Verfolgung und Widerstand im Kreisgebiet in den Jahren 1930 bis 1945, Dreieich 1991

Thea Altaras, Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Teil II, Königstein i.Ts. 1994, S. 191

Klaus Werner, Mühlheim am Main 1933 - 1945, Hrg. Magistrat der Stadt Mühlheim am Main, Mühlheim 1994, S. 179 ff.

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 278 - 281

Thorwald Ritter, Die Synagoge der jüdischen Gemeinde von Klein-Krotzenburg, bloch-Verlag, Frankfurt/M. 1997, S. 36

H.C.Schneider, Die Gemeinde braucht mich. Der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde Mühlheim, Hrg. Geschichtsverein Mühlheim a.Main e.V., Cocon Verlag Hanau 1998

Jörg Neumeister-Jung, Der jüdische Friedhof in Mühlheim am Main: die Schicksale der Mühlheimer Juden, Hrg. Geschichtsverein Mühlheim a.Main e.V., 2002

Mühlheim/Main, in: alemannia-judaica.de (mit Recherchen von Jörg Neumeister-Jung)

Michael Prochnow (Red.), Goldene Quadrate der Erinnerung, in: op-online.de vom 20.10.2009

Auflistung der in Mühlheim/Main verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Mühlheim_am_Main

Stolperstein Familie Chmielniki, in: Naturfreunde Deutschlands: Ortsgruppe Mühlheim am Main e.V. (online abrufbar)

N.N. (Red.), Umzug bei Nacht, in: op-online.de vom 9.8.2014

man (Red.), Verfolgung der Mühlheimer Juden, in: „Stadtpost Mühlheim“ vom 16.11.2017

Jörg Neumeister-Jung (Bearb.), Verfolgung und Deportation der Mühlheimer Juden, online abrufbar unter: naturfreunde-muehlheim.de/judenverfolgung muehlheim 10_11_18.pdf